Srebrenica :: I was here ...

Was man  n i c h t  tun muss, aber tun kann: Von Tuzla aus ist es möglich, einen Ausflug nach Srebrenica zu unternehmen. Eine Übernachtung in Srebrenica kann ich nicht empfehlen. Dort ist man auf  Touristen wirklich nicht eingestellt; es bliebe die Möglichkeit, im Büro einer der internationalen Organisationen nach Unterkunft zu fragen.
Sarajevo und Tuzla liegen von Srebrenica etwa gleich weit entfernt. Wegen der teilweise schlechten Straßenverhältnisse und den möglicherweise auftretenden Orientierungsschwierigkeiten aufgrund von ungenauen Karten und fehlenden oder kyrillischen Hinweisschildern kann man für jede Strecke drei Stunden rechnen. Über eine Stunde bin ich in abartige Richtungen unterwegs, bis ich kapiere, dass die Karten falsch sind, dass NATO und ADAC Straßen ausweisen, die es nicht gibt, andere dafür weglassen. Ich hole Meinungen am Straßenrand ein und werde ein ordentliches Stück zurückgeschickt. Ich bin wütend, weil kein einziges Schild nach Srebrenica weist, weder lateinisch noch kyrillisch. Wie bei den Avernern im Asterix-Heft: "Alesia? Wir kennen kein Alesia!" Es ist aber möglich, auf dem Weg von Tuzla nach Sarajevo oder umgekehrt einen (langen) Schlenker über Srebrenica zu machen.


Eine Treppe Sollte die Visumspflicht für Jugoslawien (Serbien) weiterhin aufgehoben bleiben, kann man von Tuzla aus bei Zvornik auf der serbischen Seite der Drina die Landstraße nach Bratunac benutzen. Auf bosnischer Seite führt streckenweise nur eine Schotterpiste am Fluss entlang. Die Landschaft mit grüner Drina und großem See bei Zvornik ist sehr schön.


Srebrenica ist wegen des Mitte Juli 1995 an ca. 8000 Menschen verübten Massakers symbolisch geworden für den von serbischer Seite initiierten Völkermord, aber auch für das Versagen der internationalen Gemeinschaft. In der Enklave Srebrenica lebten nach dreijähriger Belagerung während des Krieges 43.000 Menschen (die Stadt Srebrenica hatte vor dem Krieg etwa 15.000 Einwohner). Nachdem Srebrenica als eine angeblich "Sichere Zone" unter internationalen Schutz gestellt worden war, verletzten die internationalen Schutztruppen (UNPROFOR) auf groteske Weise alle Sicherheitszusagen, indem sie die Abschlachtung der männlichen Bewohner und die Deportation der Überlebenden in Lager bei Tuzla und Bratunac geschehen ließen.
Im Zuge der Behandlung des Massakers von Srebrenica vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag wurden nicht nur serbische Milizenführer, sonder auch die Befehlshaber von UNPROFOR zur Rechenschaft gezogen. Die Schutztruppen in der Region standen unter niederländischem Kommando. Das unerklärliche Versagen der internationalen Gemeinschaft in Srebrenica zeitigte fast sieben Jahre später heftige politische Auswirkungen: In Reaktion auf einen Untersuchungsbericht trat die niederländische Regierung sowie der Armee-Chef im April 2002 zurück.
Schwer beweisbare Gerüchte sagen, das Massaker in Srebrenica sei von der internationalen Gemeinschaft geduldet worden, da ein Zustandekommen des Dayton-Vertrags und die Aufteilung Bosniens in zwei ethnisch getrennte Entitäten unmöglich erschien, solange die mitten in serbischem Gebiet liegende Stadt Srebrenica und ihr Umland 27.000 Moslems beherbergte. Laut Statistik lebt heute kein einziger Moslem mehr hier, dafür hat die serbische Population sich von 10.000 auf 20.000 Menschen verdoppelt.



                                 Srebrenica und Umgebung 

Ethnische
Zugehörigkeit

Einwohner vor
dem Krieg

Einwohner nach
dem Krieg

Davon
Vertriebene

Bosnische
Moslems

27.118

-

-

Bosnische
Kroaten

38

-

-

Bosnische
Serben

9.381

21.000

11.619

Sonstige

300

-

-

Gesamt

37.211

21.000

11.619

Quelle: Beauftragter der Bundesregierung für Bosnien Hans Koschnik http://www.bbs.bund.de/home.htm


Die Bewohner Srebrenicas erwecken nicht den Eindruck, als würden sie sich auch nur annähernd zu Hause fühlen. Die Stadt wirkt wie ein fleisch- und steingewordenes Kriegstrauma. Hier gehen sie spazieren, auf einem Leichenfeld, viele von ihnen selbst vertrieben, und leben in den Häusern Ermordeter. Glücklich sehen sie nicht aus. Wie kann man von einem Küchentisch essen, der Unterlage einer Vergewaltigung war? In Betten schlafen, deren zerschossene, blutige Matratzen erst mal entfernt werden mussten? Ich habe keine Lust, die internationalen Organisationen aufzusuchen. Ich habe überhaupt keine Lust, mit jemandem zu reden. Wortlos reime ich mir eine Geschichte zusammen aus entstellten Gesichtern, aus dem Gefühl, dass hier vorsichtig gelebt wird wie auf Zehenspitzen. Zarte Versuche von Kinderfußball auf den Straßen, Männergespräche vor Haustüren und weibliche Blicke durch geschlossene Fenster. Ein paar Adler kreisen über dem Tal.


Es gibt nichts zu sehen. Kaum Autos. Keine Geschäfte, keine Parks, keine Cafés. Keine Häuserfronten. Ein betonierter Sportplatz. Plattenbauten mit Rissen. Wenige Passanten, die krank wirken, mit tiefliegenden Augen und schlecht schließenden Mündern, die Zungen und kaputte Zähne sehen lassen. Vor dem Krieg, sagen manche Ex-Einwohner, sei Srebrenica eine der schönsten und romantischsten Städte Bosniens gewesen. Davon ist inzwischen wirklich nichts mehr zu merken.


Aus einer Liste zerstörter Kulturgüter in Bosnien
(Mosque = Moschee; shells = Granaten):

[...]

426. The Mosque in Dobrak dzemat near Srebrenica destroyed.
427. The Mosque in Lijesce dzemat (Srebrenica) destroyed.
428. The Mosque in Daljegosta near Srebrenica leveled.
429. The Mosque in Osatnica (Srebrenica) damaged by shells fired from Serbia.
430. The Mosque in Tokoljaci (Srebrenica) damaged.
431. The Mosque on Vidikovac in Srebrenica heavily damaged on August 8, 1992.
432. The local Mosque in Potocari near Srebrenica substantially damaged.
433. The Mosque in Osmace dzemat near Srebrenica damaged.
434. The Mosque in Luka dzemat (Srebrenica) damaged.
435. The Mosque in Suceska dzemat near Srebrenica damaged.
436. The Mosque in Klotijevac village (Srebrenica) damaged by shells launched from Serbia.
437. Mekteb in Pribidoli (Srebrenica) burnt down.
438. The newly built Mosque in Pribidoli also burnt down.
439. The Mosque in Slapovici (Srebrenica) heavily damaged.
440. Two Mosques, Both the new and old one, in Pec (Srebrenica) destroyed.
441. The Mosque in Trubari dzemat (Srebrenica) burnt down.
442. The Mosque in Sase (Srebrenica) destroyed.
443. Mekteb and mesdzid in Karacici (Srebrenica) damaged during the artillery attacks on that place.
444. All other mektebi, Imam's residences and other Vakuf complexes in the Srebrenica region substantially damaged and cannot serve their purpose.


Die orthodoxe Kirche auf dem kleinen Hügel über der Stadt ist frisch renoviert. Auf der nächsten Hügelkuppe steht ein großes orthodoxes Kreuz vor den unter üppiger Vegetation verschwundenen Ruinen einer ehemaligen Befestigungsanlage. Von der moslemischen Kultur sind kaum Spuren geblieben - nur an den bewaldeten Hängen rund um die Stadt stehen einzelne muslimische Grabsteine, die man bei längerem Hinsehen entdeckt.


Wenn man genug hat von der Stadt, kann man einen Spaziergang auf kopfsteingepflasterter (also trittsicherer) Straße zur Quelle des kleinen, orange und türkis oxidierten Flusses unternehmen. Man geht die Straße Richtung orthodoxer Kirche hinauf, biegt auf Höhe der OSZE-Mission rechts ab und folgt der Straße aufwärts. Wenn die Wohnhäuser aufhören, liegt rechter Hand ein Gebäude, dass früher ein Sanatorium oder Krankenhaus gewesen sein könnte. Hier beginnt die Kopfsteinpflasterstraße bergauf und endet nach einer knappen Stunde Fußweg an den Ruinen eines Restaurants oder Hotels. Oberhalb der Trümmer kommt die Quelle aus dem Fels, eine Steintreppe führt hinauf.


  Die Treppe

Barfuß taste ich mich die glitschigen Stufen hinauf und erreiche ein Betonhäuschen, in den Fels gebaut wie ein Bunkereingang. Die Stahltür steht offen. Drinnen kommt die Quelle aus der Wand, hat sich den Stein zu einer modernen Skulptur zurechtgeschliffen.

Die Stufen


Man kann die Stadt als ein Denkmal besuchen, das die eigene Geschichte viel besser in sich aufbewahrt, als es der weiße Gedenksteinquader auf dem Feld am Ortseingang je könnte. In Srebrenica wurde ohnehin nichts vergessen. Es leben nur noch Serben hier, Angehörige der "Täterseite" (was wie stets über Schuld oder Unschuld jedes Einzelnen absolut nichts zu sagen hat), und es scheint Trauer oder jedenfalls stummes Entsetzen auf der Stadt zu lasten. Dieser Eindruck kann auch meiner eigenen Phantasie geschuldet sein. Alles Einbildung, versteht sich. Wüsste ich nichts über die Stadt, würde ich an ihr nichts Ungewöhnliches finden. Oder? Um das herauszufinden, muss man wohl hinfahren.


Als ich lange genug geschwiegen habe, gehe ich zum Wagen. Der Weg nach Tuzla ist weit, ich werde ihn genießen. Auf die erste Moschee unterwegs reagiert mein Zwerchfell mit Freudenstichen. Nie hatte ich etwas mit Allah am Hut, aber seit neuestem fühle ich mich besser in seiner Gegenwart.

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